Wider der Erwartung

Beitrag von Dirk Lion
Wie lernen Menschen, verantwortlich und eigenständig zu handeln?
Die naheliegendste Antwort ist so simpel wie, beim näheren Hinsehen, kompliziert: Indem sie Verantwortung übernehmen bzw. die Möglichkeit bekommen, eigenständig zu handeln. So weit, so einfach.

Wie können wir als Trainerinnen und Trainer Gelegenheiten und Erlebensräume schaffen, in denen wir unseren Kindern nicht nur spielerisch etwas beibringen, sondern ihnen auch in diesen zweifellos sehr wichtigen Punkten die Möglichkeit geben, Erfahrungen zu sammeln und zu reifen, Kompetenzen zu entwickeln?
Zur Beantwortung dieser Frage ist ein weiterer, theoretischer Gedankengang notwendig. Mit unterschiedlichen Rollen – z.B. eben der Rolle des Trainers/der Trainerin – sind bestimmte Erwartungen verknüpft. Als StudentIn erwarte ich beim Betreten eines Hörsaals, dass ich im Folgenden von meinem Dozenten bzw. meiner Dozentin Fachwissen vermittelt bekomme – in den meisten Fällen in Form einer Vorlesung. Ich gebe mit Betreten des Hörsaals also de facto die Verantwortung für mein Lernen an jemand anderen ab.
Was passiert nun, wenn sich der Dozent einfach in die Reihen der Studierenden setzt mit
dem Hinweis, heute keine Verantwortung für den Lernprozess zu übernehmen und nichts zu vermitteln? Es wird sich zunächst, aus eigener Erfahrung gesprochen, „nicht richtig“
anfühlen und es entsteht eine peinliche und unangenehme Stille, wenn „da vorne“ niemand steht. Nach einiger Zeit aber beginnen sich die Studentinnen und Studenten selbst zu organisieren, die Stille zu durchbrechen und sich eigenständig vorlesungsrelevanten Themen zu widmen, die sie interessieren. Sie erschließen sich ihr Thema damit ein großes Stück selbst. Erst so entsteht ein Lernen, das wirklich nachhaltig ist und nicht auswendig gelernt nach der Klausur wieder vergessen wird. Soziologisch gesprochen hat der Dozent die Rollenerwartung, die unbewusst an ihn oder sie besteht, nicht erfüllt und keine
Verantwortung übernommen.
Ähnlich verhält es sich in Trainingssituationen. Unsere Kinder und Jugendlichen übertragen mit Betreten der Halle die Verantwortung für ihre (spielerische) Entwicklung an uns Trainerinnen und Trainer. Dies ist mit Sicherheit nicht falsch.
»Unser Trainingsauftrag ist aber nicht nur die spielerische, sondern auch die menschlich-
soziale Weiterentwicklung.«
Aus dieser Grundkonstellation heraus entsteht allerdings eines kaum bzw. gar nicht:
Verantwortungsübernahme für das eigene Handeln und Eigenständigkeit, persönliche
Weiterentwicklung und wirklich nachhaltiges Erfahrungslernen. Hieraus ergibt sich folgende Frage für uns als Trainerinnen und Trainer:
Wie können wir Trainingssituationen und Erfahrungsräume ermöglichen, die dies (mehr)
berücksichtigen und in unsere Trainings einbauen? Ein Versuch hierzu fand an einem Mittwoch, Ende Januar, in einer Halle der TSG Kaiserslautern statt.
Statt der üblichen kurzen Begrüßung, anschließendem Aufbauen und Warmmachen setzte sich die insgesamt 12-köpfige Gruppe in der Mitte der Halle im Kreis zusammen. Von ihrem Trainer erhielt die Gruppe lediglich folgende sinngemäße Instruktion: „Ihr habt heute die Möglichkeit, euer Training selbst zu gestalten. Dazu gebe ich euch fünf Minuten zum besprechen, danach stellt ihr mir bitte euren Plan kurz vor und danach setzen wir diesen dann so um!“ Daraufhin zog der Trainer sich zurück.
Die anfängliche „Juhu, heute können wir machen was wir wollen“-Stimmung ging rasch in eine kurze Orientierungs- und Hilflosigkeit über – die Rollenerwartung wurde enttäuscht.
»Doch erstaunlich schnell organisierte sich die Gruppe, rutschte näher zusammen und besprach gemeinschaftlich, was sie im Training machen möchte.«
Als Anhaltspunkte dienten ihnen dazu natürlich ihre bisherigen Trainingserfahrungen und das damit einhergehende, grundlegende Verständnis vom Aufbau eines Trainings. Nach fünf Minuten kam der Trainer erneut hinzu und eine Sprecherin der Gruppe stellte den Plan vor.
Bis auf Uhrzeitangaben war der Plan sehr präzise und enthielt alles Wichtige: Aufwärmen, Einspielen, einen „Hauptteil“ sowie ein abschließendes Kräftemessen gegeneinander. Danach startete die Gruppe selbstorganisiert mit ihrem ausgewählten Aufwärmspiel.
Anfänglich kamen in wenigen Situationen Kinder auf den Trainer zu. Dieser sah sich jedoch nicht zuständig und die Gruppe löste die auftretenden Fragen selbstorganisiert. Auch das restliche Training lief nahezu fehlerfrei, alle waren sehr konzentriert und auf notwendige Anpassungen in der Planung reagierte die Gruppe sehr gut, so dass keine schwerwiegenden Probleme auftraten, die ein Eingreifen notwendig gemacht hätten.
Im Anschluss an das Training setzte sich die Gruppe nochmal zusammen und wurde nach ihren Eindrücken gefragt. Positiv wurde das zugestehen von Verantwortung wahrgenommen und der weniger starre, von außen gegebene Ablauf. Auch wurde aber auf Probleme hingewiesen, „an alles zu denken“ und das bei völliger Zurückhaltung des Trainers Korrekturen ausbleiben, die wichtig sind.
Als Trainer taten sich neue Blickfelder klarer auf: Wer übernimmt Verantwortung? Wer verhält sich in welcher Situation wie? Als „Außenstehender“ war es möglich, nochmals einiges über die Trainingsgruppe und die einzelnen Charaktere mit ihren Stärken und Schwächen zu verstehen. Zudem konnte die intensive Spielbeobachtung, die häufig auf Grund von Balleimer o.Ä. auf wenige Ballwechsel beschränkt bleibt, neue Einsichten eröffnen.
Die Gruppe rechtfertigte die Verantwortungsübernahme vollkommen. Die kurze Phase der Hilflosigkeit wurde schnell überwunden. In dieser Phase nicht doch einzugreifen ist eine der größten Herausforderungen. Hierzu ist Vertrauen in die Stärken und Fähigkeiten der Kinder und Jugendlichen wichtig. Ob und wie man diese Form des Trainings zukünftig handhaben soll, darüber waren sich die Kinder nicht ganz im Klaren. Sehr weitsichtig konnten sie die Vor- und Nachteile in der Besprechung benennen. Den grundsätzlichen Ansatz, Verantwortung und Eigenständigkeit weiter bewusst zu fördern, unterstützten alle. Diesen Ansatz zu berücksichtigen, sein Lernen selbstgesteuert und selbstorganisiert (mit)zugestalten und in das Training einzubauen ist Aufgabe verantwortungsbewusster
Trainerinnen und Trainer. Gerade auch in beruflichen Kontexten wird eben jene Form des
Lernens zunehmend von großer Bedeutung und die Entwicklung ist hier noch nicht am Ende.
Zwei schöne Effekte hatte das Training zusätzlich. Zum einen war es eine der ruhigsten und konzentriertesten Trainingseinheiten überhaupt. Zum anderen haben die Kinder festgestellt:
So ganz ohne Trainer geht es dann doch nicht.

Der Autor:
Dirk Lion
D-Lizenz-Trainer
Sozialwissenschaftler, Schwerpunkt Kompetenzentwicklung
Seit 8 Jahren Kinder- und Jugendtrainer in Vereinen im Saarland und der Pfalz